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Home VIII. Das Thannheimer Gebirge Abstieg in's Reinthal [Raintal/Reintal] Nacht in der Holzerhütte
 H. v. Barth: Aus den Nördlichen Kalkalpen (1874)
 II. Aus den Algäuer Alpen [geographische Bezeichnungen sind noch nicht überprüft]
 VIII. Das Thannheimer Gebirge

Mit einem Tiroler Holzknecht auf die Nesselwängler Scharte und den Kellerschrofen [Köllenspitze/Kellespitze]

Durch niedrige Gebüsche gingen wir noch eine Viertelstunde weit thalein, den stark hervortretenden Körper des Kellerschrofen auf unsere linke Seite zu bekommen. Vor uns öffnete sich der Thalschluss, das weite Kar, mit seinem Zackenrande, in seiner südwestlichen Ecke die Rothe Flüh [Gimpel]. Spärliche, oft unterbrochene Grasstreifen durchstreichen ihre steilen Nordflanken. Mein Führer sagte mir, dass eine Ersteigung in dieser Richtung wohl möglich, aber schwierig auszuführen und namentlich auszufinden sei; weit besser sei es, von Süden her aus dem Kar der Nesselwängler Alpen [Gimpel-Alp] anzusteigen. Erste Unterlassungssünde dieses Morgens!

Zu unserer Linken hatte eine weite, steil hinanziehende Bergmulde sich aufgethan, an der Scharte culminirend, welche den Uebergang nach Nesselwängle gestattet. Langgestreckte Schneelehnen füllten ihren Grund und breite Geröllhügel lagerten an ihrer Ausmündung. Wir wendeten uns und begannen den Anstieg. Erst über Schutt, dann über Schnee, – in der Mitte des Gehänges einen steileren, jedoch auf Rasenstufen gut gangbaren Absatz hinan und dann wieder starkgeneigte Schneefelder stufentretend hinauf, erreichten wir nach 1 1/2 Stunden den hügeligen Boden an der Nesselwängler Scharte wieder. 12 Stunden vorher war ich an der gleichen Stelle gewesen. Und nun wurde in östlicher Richtung der gerade Angriff unternommen. Einen kleinen Vorgeschmack dessen, was dort sich bieten würde, hatte bereits die Wanderung durch das Kar und über die Schneelehnen herauf mir gegeben; das Massiv des Kellerschrofen [Köllenspitze/Kellespitze], welches diesen unseren Weg an der linken Seite begleitete, hatte in unausgesetzter Folge alle seine Kaminklüfte, die Zackenrippen, welche dieselben trennen, vor unseren Augen entwickelt und namentlich waren es die letzteren, welche, meist nur ihr scharf abgerissenes Ende weisend, in den abenteuerlichsten Gestaltungen sich gefielen. Von der Scharte selbst aus sahen wir wieder nichts, als die scheinbar zusammenhangslosen Schrofenhöcker auf dem Grat, welche von dem mächtigen, hinter ihnen verborgenen Gipfel nur eine höchst schwache Ahnung gaben.

Der erste Anstieg gestaltete sich noch ziemlich natürlich längs der Grasplätze in der Nordflanke des Grates; die ausstrahlenden Klippenreihen fortwährend nach der Tiefe umgehend, befanden wir uns bald am Rande einer breiten, von Steilmauern eingefassten Geröllschlucht, ein kurzer, aber scharfer Abstieg brachte uns auf dessen Sohle hinab. Wir hatten damit bereits eine der grossen Klüfte im Körper unseres Gipfels gewonnen, welche in grosser Zahl denselben durchschneiden, gegen das Reinthal jedoch, beziehungsweise gegen die breite Bergmulde, welche uns zum ersten Anstiege gedient, mit Wandabstürzen ausmünden. Von diesen grossen Einschnitten ab beginnt die Zerklüftung und Zertheilung der Felsmassen in's kleine und kleinste Detail. Einen bezeichnenden Charakterzug, welcher die Ersteigungslinie im Voraus bestimmten lässt, würde man an diesem Gebirge vergebens suchen. Geschlossen starrt die Wand dem Ankömmling entgegen, mag er von dieser oder jenser Seite dem Gipfel sich nahen. Tritt er aber erst unmittelbar an's Felsengerüste heran, da lockert und verschiebt sich sein Bau, von senkrechten, oft überhängenden Zacken bedroht, arbeitet er sich gleichsam in's Eingeweide des Berges hinein und leitet genaue Ortskenntniss oder glückliches Errathen seine Schritte, so arbeitet er sich aus diesem Labyrinthe auch wieder hinaus, in's Freie, auf den Gipfel. Grösser allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass er in eine unrichtige Ader sich versteigen und wo dieselbe als senkrechte Spalte in die Wand verläuft, stecken bleiben werde.

So zeigten sich denn auch in der Steilwand jenseits des Geröllbodens der Spalte und Kamine gar mannigfache; mein Führer wählte eine, unserer Abstiegsstelle ziemlich gerade gegenüber gelegene zum Eintritt in's Gemäuer, äussernd, dass wir den Rückweg "auf der andern Seite" nehmen würden. Die Kluft ging nicht gerade aufwärts, sondern wand sich um die vortretenden Schrofenecken hin und her und bot bei jedem Schritte fast ein neues Bild. Die düsteren Nebel, welche noch immer um die Zacken hingen, vermehrten das seltsam Fremdartige unserer ganzen Umgebung. Noch heute tauchen mir oft Bilder verworrener, phantastisch geformter Klippengruppen auf, die ich irgendwo gesehen haben muss – aber ich kann sie nicht mehr einreihen an den gehörigen Ort. Ich habe Grund zu glauben, dass die Mehrzahl derselben auf den Kellerschrofen sich zurückführen liesse. Eine Gabelung der Schlucht, an welcher wir uns links wandten, dann eine Versperrung dieses Astes durch einen mächtigen, herabgestürzten Felsblock, bereitete unserem Aufsteigen die bedeutendsten Schwierigkeiten. Oberhalb dieser Stelle ging es bald besser, der Graben weitete sich aus und bröckeligen Stufen bildeten seine Sohle. Bald war jede Spur einer Einsenkung verschwunden. Breit und trümmerbedeckt wölbte der Gipfelscheitel sich zusammen; wenige Minuten noch und wir betraten sein Haupt, auf welchem ein halbverfallenes trigonometrisches Signal steht (6901' 2242 m. Lamont) [Köllenspitze/Kellespitze, 2238 m]. Gegen Süden stürzen vom Gipfelplateau weg unmittelbar die Wände zur Tiefe nieder; nordwärts streckt sich ein kurzer Grat gegen das Reinthal [Raintal/Reintal] vor; von Westen her schliesst die Zackenschneide der Rothen Flüh [Gimpel], von Osten ein gangbarer Geröllrücken an den Gipfel. Letzterer würde das Absteigen von demselben gegen Osten ohne Schwierigkeit gestatten bis zur nächsten Gratscharte, von welcher wieder ein minder bedeutender Felsspitz sich erhebt. Jeder Weiterweg von dort wäre jedoch abgeschnitten*).

*) {Es führt hier der sog. "Teufelsgrat" zum heutigen "Kelleschrofen" [Köllenspitze/Kellespitze], erstmals 1898 von J. Bachschmid und E. Christa überschritten und seitdem als schwierige Kletterfahrt beliebt.}

Wir hatten von der Nesselwängler Scharte nicht ganz 1 Stunde bis auf den Gipfel des Kellerschrofen benöthigt. Seine Besteigung ist, wenn auch auf richtiger Anstiegslinie nicht von übermässiger Schwierigkeit, doch denjenigen Touren beizuzählen, welche eine höhere, als die den Bergtouristen gewöhnliche bergsteigerische Gewandtheit erfordern. Es war mir nicht eben sehr verwunderlich, dass mein Tiroler mir erzählte, er habe schon mehrmals Herren auf den Kellerschrofen geführt; mit nicht geringem Erstauen aber hörte ich von einer Ersteigerin, die, ebenfalls unter seiner Führung, dies schroffe Felsenhaupt betreten: diese Ersteigerin ist Königin Marie von Bayern.

Es war gegen 1/2 6 Uhr abends; die Regenschauer, die als Nachzügler dem ersten Gewitter noch gefolgt waren, hatten aufgehört, aber dichtes Gewölke umhing den Gesichtskreis und verhüllte die Gebirge in unserer näheren und ferneren Umgebung, oft auch unseren Gipfel selbst, der dann wie eine Felseninsel im grauen Meere dahinzutreiben schien. Auf Augenblicke aber zerriss der Wolkenschleier und zeigte bald im Osten die Gernspitze [Gehrenspitze], bald im Westen die Doppelgestalt der Rothen Flüh [Gimpel] mit dem Haldenspitz [Rote Flüh], beide unverkennbar unter unserem Niveau gelegen. Offener war der Ausblick gegen Norden, in's Reinthal [Raintal/Reintal] und auf den Bergkamm jenseits desselben, weiter hinaus aber, in's flache Land, reichte auch diese nicht. Noch seltener war im Süden von den Gebirgen des Birkthals [Birkental] und der Vilsalper Gruppe [Vilser Alpen] etwas zu erblicken. Ein lichter Schein im fernen Westen gab Hoffnung auf Klärung des Horizontes bei Sonnenuntergang, so lange aber konnten wir nicht warten. Nach halbstündigem Aufenthalte verliessen wir den Gipfel. Gleich darauf umringte uns wieder das Düster seines schroff ummauerten Felsengrabens.

Es war in der That ein anderer, als jener, durch welchen wir heraufgekommen; nur wollte mir die Richtung, welche derselbe nahm, von Anfang an nicht recht einleuchten, da dieselbe gerade gegen Norden, eher gegen Nordwesten zeigte, während wir, wollten wir auf die andere Seite herabkommen, augenscheinlich gegen Osten zu gehen hatten. Doch war die Orientirung bald sehr schwierig geworden, da auch dieser Graben zahlreiche Windungen beschrieb und dichter die Nebel auf die Felsgestaltungen sich herabsenkten; seltsame Gebilde von Zinnen und Thürmen, Nadeln und Obelisken begleiteten wieder, halb verschleiert, unseren Weg, er krümmte sich, gleich wie durch enge Gassen fremdartiger Bauwerke, einer Stadt, die von Menschen nicht erbaut noch bewohnt ist. Nach einiger Zeit verliessen wir die Kluft, kletterten an einer breiten Schrofenrippe vorbei und befanden uns bald in einem neuen Einrisse, der uns wieder ein Stück weit thalwärts führte. Von seiner steilfallenden Ausmündung weg kamen wir auf eine breite Geröllschlucht, in welcher wir etwas aufwärts zu steigen hatten, um jenseits einen gangbaren Ausweg zu finden. Mit einigem Erstaunen erkannte ich in dieser Schlucht die gleiche, von welcher aus unser Anstieg begonnen hatte, und nun erst wurde mir klar, dass lediglich von einem veränderten Abstiege nach der nämlichen Seite hinunter die Rede gewesen war.

Bald waren wir über die Nesselwängler Scharte zurück und eine Fahrt über die Schneefelder brachte uns rasch zum Reinthale hinunter. Es dämmerte bereits stark, als wir bei der Hütte anlangten; wie ich vorausgesehen, hatte sich der Himmel völlig geklärt und über den bleichen Gipfelmauern erglänzte hier und dort ein freundlicher Stern.


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Letzte Aktualisierung am 25. April 2021

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