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Home XXI. Verirrt im Vomperloch Nacht in den Vomper Bergen [1870] Misslingen und forcirter Abstieg an den Vomper Bach
 H. v. Barth: Aus den Nördlichen Kalkalpen (1874)
 IV. Aus dem Quellen-Gebiete der Isar [Karwendel] [geographische Bezeichnungen sind noch nicht überprüft]
 XXI. Verirrt im Vomperloch

Versuch eines Ueberganges in's Spritzkar

Im raschen Abstiege hatte ich die Gelenkigkeit der Glieder bald wieder gewonnen, springend ging's zu Thal durch die Krummholzhügel, zwischen denen bald tiefe Felsrunsen sich einzuschneiden begannen; auch mehrte das Gefäll der Sohle sich zusehends und es trat allmählig die Aufgabe des Wegsuchens dringender an mich heran. Von einem Ausweichen nach der rechten Seite, von einem Beginne des Querganges in's Spritzkar konnte noch auf weite Strecke keine Rede sein; unangreifbare Mauern bilden die Westschranke des Oedkarls und mehren jeden Austtritt aus seinem zusehends sich verengenden Grunde; die flachen, buschigen Lagen, welche ich gestern, in tiefer Abenddämmerung, nahe vor mir zu sehen geglaubt, befanden sich in unerwarteter Tiefe, ihr Zusammenhang, die Brücke, die sie in's jenseitige Hochthal mir schlagen sollten, erschien bedeutend zweifelhafter als Tages vorher. Einige grüne Bänder, die in die sperrende Mauer zur Rechten sich hineinzogen, ihre abgerissene Kante und damit die Grenze eines allgemeiner gangbaren Terrains zu berühren schienen, verlockten mich seitwärts in die Wand hinein. Erst engstufiger Fels, dann zerfurchtes Geplätt, sparsam mit Rasenpäckchen durchsprenkelt, endlich kahles, wildzerrissenes Gewände; ich mochte den einmal begonnenen Versuch nicht aufgeben, bevor seine völlige Unausführbarkeit sich herausgestellt, und gewann denn auch als Resultat die Einsicht der absoluten Unmöglichkeit weiteren Vordringens; ein mächtiger Strebepfeiler war es, der mich getäuscht, der von den Hauptmassive des Zweigkammes durch eine tiefe, wüste Schlucht sich abgespalten zeigte. Mit langwieriger Mühe, unter mancher Schwierigkeit, hatte ich diesen negativen Erfolg errungen, und grösser noch war die Mühsal, die Beschwer, auf den alten Standpunkt zurückzugelangen. Die Irrfahrt hatte ihr erstes, immerhin noch sehr erträgliches Stadium durchlaufen.

Es blieb nichts weiter übrig, als den gewünschten Uebergang in noch beträchtlich grösserer Tiefe zu suchen; der Thallauf des Oedkarls wurde immer jäher, von einem, auch noch so bescheidenen Steiglein wies sich in ihm nicht die Spur. Jähe Plattengräben erschienen nun auch zur Rechten; am Fusse der Wände, welche ich zu übersteigen getrachtet; die Mitte der Sohle allein gestattete die Fortsetzung des Weges, bald über steiles, in starken Absätzen zu Thal fallendes Geschröf, bald durch dichte Legföhrendickung. Endlich lichtete zur Rechten sich das Terrain; die Wände traten zurück, eine Bucht, zu finsterer Schlucht sich ausspitzend öffnete sich zwischen ihnen; ihre breit verflachte Ausmündung zeigte Haufen von Trümmerwerk, ausgedehnte Schutthalden, in etwas tieferer Zone mit Gebüsche überzogen – sogar mit einzelnen aufrechten Bergfichten bestockt – ein höchst unerfreuliches Wahrzeichen des enormen Verlustes an Höhe. Indess schien nun die Querverbindung gefunden; ich kreuzte den bewachsenen Boden, die Reissen und Plattenrinnen und begann längs des Mauerfusses in westlicher Richtung empor zu steigen. Eine tiefe Sinke, von zertheilten Rinnen durchfurcht, leitete meinen Weg zum Scheitel eines niedrigen Höhenrückens – die nahe Grenze des Ausblicks gegen Westen.

Zwei Stunden war ich bereits in Marsch; dem Spritzkar war ich um keines Schrittes Länge noch näher gekommen, und gelang es mir endlich, in seine Tiefe einzudringen, so konnte ich nun auf einen endlos langwierigen Aufstieg nach dem Gipfel rechnen. Auch die Witterungsverhältnisse gestalteten sich trüber und trüber; schwer zogen sich Wolkenschichten am Firmamente umher und Nebelkappen deckten die Häupter des Speckkargebirges. Eine halbe Stunde äusserst beschwerlichen, steilen Ansteigens durch Plattrunsen und über festverkittete Griesrutsche, abwechselnd wieder durch Dickung und Gestrüpp, beförderte mich auf den ziemlich buschfreien Scheitel des nahen Bergrückens; hier musste ein Ausweg – sei's, wie gewünscht, in's Spritzkar, sei's äussersten Falles zum Vomperloch hinunter sich eröffnen; das Oedkarl, zur tiefen Schlucht sich zusammenschnürend, konnte meine Bahn nicht länger mehr sein. Und die ersten Aspecten, wie sie der gewonnene Kammscheitel mir bot, waren nicht allzu ungünstig: ein schmales Steiglein sah ich bis zu seinem südöstlichen Eckpunkte sich hinausziehen, durfte darauf rechnen, von ihm auf den Thalweg hinabgeleitet zu werden; der Ausweg aus dem Oedkarl erschien damit vorläufig als gesichert.

In hohem Grade zweifelhaft erwies sich dagegen der Uebergang nach dem Spritzkar. Ich befand mich keineswegs auf dem Grate des trennenden Kammes; schroffe Felsenrücken, durch mächtige Gräben getrennt, standen westwärts in doppelt und dreifacher Wiederholung mir gegenüber, als unübersteigliche, ja sogar unnahbare Schranken. Was ich während des langedauernden Abstieges durch's Oedkarl bereits zu besorgen begonnen, dass in so tiefen Regionen der eine Bergrücken sich gespalten, mit vermeinter Umgehung des einen Hindernisses ich mir deren ein halbes Dutzend geschaffen haben möchte, das sah ich nun klar und deutlich vor Augen: und zu spät gedachte ich nun eines Principes in Durchwanderung der Gebirge, dass die Querverbindung zweier Thäler, in je höherer Zone, um so leichter und sicherer sich zu ergeben pflege. Noch wollte ich das Aeusserste nicht unversucht lassen; vielleicht mochte es gelingen, durch schrägen Anstieg die Gräben an den Stellen ihres Ursprunges zu übersetzen, von Rippe zu Rippe vor-, auf den Hauptgrat, und endlich in's Spritzkar einzudringen. Ich begann daher in nordwestlicher Richtung emporzuklimmen, ein steiles, pfadloses Gehänge, kahler Fels mit kaum verwitterter Aussenschicht, vom Krummholze überwuchert, durch dessen Ranken ich mühsam mir Bahn brach; die Grabentiefen zu meiner Linken machten durchaus keine Miene, einen baldigen Uebergang zu gestatten, im Gegentheile drängten neue Verzweigungen derselben immer weiter nach der rechten Seite mich ab, entfernten mich sonach von meinem Ziele. Durchspaltene Mauerabbrüche, Plattenlagen, zahnige Rippen verengten das gangbare Terrain immer mehr; auf schmaler, scharfschrofiger Gratkante, eine wilde Schluchte zu meiner Linken, bewegte ich mich aufwärts, einem Felsenrücken entgegen, der zwischen prallen Thürmen eine kleine Thorscharte offen liess. Vielleicht lässt die nächstnöthige Umgehung sich wieder ostwärts bewerkstelligen . . . . .


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Letzte Aktualisierung am 25. April 2021

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