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Home III. Die Göllkette Der Erwartete auf dem Hohen Göll Alpenglühen am Torrener Joch
 H. v. Barth: Aus den Nördlichen Kalkalpen (1874)
 I. Aus den Berchtesgadener Alpen
 III. Die Göllkette

Abstieg durch die Hachel nach Alpwinkel

Ich hätte auf meinem luftigen Sitze, am Rande der Steilwände des Wilden Freidhofs mich sehr behaglich befunden und wahrscheinlich noch längere Zeit hindurch nicht an den Aufbruch gedacht, wenn nicht ein schlimmes Uebel, Durst genannt, zu immer unangenehmerer Geltung gelangt wäre; das Schneeessen wollte allgemach nicht mehr genügen, die Flasche, welche schon auf manchem hohen Gange getreulich mich begleitet hatte, war heute Morgen am Aufstiege durch das Alpelthal ganz unmotivirt im Rucksacke zerbrochen, dessen Inhalt zwar seitdem wieder trocken geworden war, mein Innerstes aber in nicht geringerem Masse. Eine Citrone besass ich noch, die ich von Berchtesgaden mit auf den Weg genommen hatte, um Limonade zu bereiten; in diesen Höhen aber "ist die Cultur verschwommen"; – ich verschlang sie inclusive ihrer Schale

Und wo nun hinunter? Auf den Hohen Göll zurück gewiss nicht; der Weg ist mir, von seinen gelegentlichen Hindernissen auch abgesehen, zu lang und zu trocken; auf dem Grate über das Grubenhorn [Gruberhorn], den Völmbachkogel und den Schönbachkopf gegen Osten weiter? – Ebenfalls sehr weit, problematisch und nichts Flüssiges in Aussicht*). Direct zu Thal? unter den gegebenen Umständen jedenfalls allem Anderen vorzuziehen; bleibt nur noch die Wahl der Thalung, durch welche der Abstieg zu bewerkstelligen. Eine ziemlich viel versprechende Einsenkung der Gebirgsflanke habe ich bereits an der Hochscharte wahrgenommen, eine zweite vom ersten Signalgipfel des Grates, und eine dritte endlich zieht sich von meinem Gipfel selbst in gerader Linie zur Blüntau [Bluntau] hinunter**). Ihre Ausmündung zeigt eine rauschende Alphütte [Alpwinkl-Alm], das lockende Phantasiebild einer gefüllten Milchschüssel zieht als kräftiger Magnet mich dort hinunter. Ein letzter Jauchzer hinüber zum Hohen Göll; der hochgeschwungene Arm zeigt dem drüben weilenden Freunde meine künftige Wegesrichtung an und gibt ihm zu verstehen, dass wir im Thale erst uns wieder begegnen werden.

*) Wie der Anblick der Göllkette vom Haagengebirge aus mich lehrte, wäre der Weg auch mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden gewesen.

**) Auch dieser Hochthäler Namen erfuhr ist erst fünf Jahre später vom Blühnbacher Jäger, mit dem ich das Haagengebirge durchwanderte. Die Thalung, welche ich zum Abstiege wählte, heisst "In der Hachel"; meine Wahl war, wie mir der Jäger sagte, schlecht getroffen, ich hätte weit besseren Weg durch die Hochschartrinne gehabt. – Oestlich der Hachel folgt eine begrünte, breite Scheitelfläche eines Zweigkammes, die Grubenleiten, dann ein ziemlich ausgedehnter Geröllkessel, die Gruben; noch weiter östlich der Völmbachsand, ebenfalls ein Geröllkar. Den Kuchler Göll benannte jener Jäger als Freieck, wie er auch auf der Keil'schen Karte sich befindet.

Das Gehänge, in der Nähe der Gipfelkuppe noch mässig geneigt, nahm an Steile rasch zu, doch zeigte es sich auf weite Strecken hinunter gangbar, kleine Rasenschöpfe haften allerwärts am Felsen, sie bieten festen, sicheren Tritt, der freilich jedesmal genau eingesetzt werden muss. Die Seitenrippen des Gebirges, welche das schmale Kar begrenzen, nehmen an Höhe und an Schroffheit rasch zu und schneiden bald jede Hoffnung ab auf die Möglichkeit des Uebergangs in ein Nebenthal, falls das zum Abstiege gewählte sich als ungangbar ausweisen würde. Letzteres hatte vorerst noch gute Wege, endlos dehnte das schwach begrünte Gehänge vor meinen Füssen sich hinab; manch' weisser Stern der edelsten Alpenblume wurde hier erbeutet und zierte den Hut. Aber die scheinbar endlose Fläche gangbaren Bodens nahm schliesslich doch ein Ende und leider ein gutes Stück früher, als das Hochthal selbst, welchem sie angehörte.; 1 1/2 Stunden Abstiegs vom Gipfel des Kuchler Göll entfernt, sah ich plattenkahlen Felsen in jähen Absätzen vor mir, durchspalten von tiefen, schneeerfüllten Klüften. Eine Strecke weit klomm ich auch da noch hinunter und befand mich endlich vor einer senkrechten Stufe von etwa 12 Fuss [3,8 m] Höhe, unter mir ein Firngraben, der in's Dunkel der zusammendrängenden Wände sich verlor; ich hatte nicht übel Lust, hinunterzuspringen und mein Heil dort weiter zu versuchen, besann mich aber noch zu rechter Zeit, dass dies eigentlich ein tolles Wagestück sei und ich immerhin vorerst noch anderwärts mich umsehen könne. Mein Abstieg hatte mich zuletzt völlig an die linke (östliche) Thalseite gedrängt, ich kletterte über die Plattschrofen zurück, bis ich wieder die begrünten Lagen erreicht hatte und querte nun die Sohle nach der entgegengesetzten Seite hinüber; als ersten Vortheil dieses klügeren Verfahrens erntete ich das Auffinden eines kleinen Wässerchens, welches, einem Schneeflecke entquellend, in einer Plattenrunse zu Thale floss. Diesen dringendsten Punkt einmal erledigt, war es mir einigermassen gleichgiltig geworden, ob ich überhaupt einen Ausweg aus dem Hochthale finden würde; lässt der eigensinnige Berggeist mich zu diesem Loche nicht hinaus, so muss er mich eben über Nacht behalten, morgen steige ich ihm dann über den Göllgrat wieder davon. –

Doch sagt das Sprichwort: "ein Unglück kommt nie allein" und es gilt in nicht geringerem Masse sein Gegentheil; nachdem ich den Durst gestillt und etwas gerastet hatte, fand ich die westliche Thalseite gar nicht so übel zum weiteren Abstiege, allerwärts steil, doch nirgends besonders bedenklich, bot sie dem Fusse auf aufgestuften, theilweise bewachsenen Schrofen, sichere Bahn zu Thal. Die Bergrippe, welche die Westseite meiner Sinke eingrenzt, streckte sich mit einer letzten Ausspitzung gegen das Blüntauthal [Bluntau] vor; schwache Spuren eines schmalen, sogenannten Gamssteigl's leiteten auf ihre begraste, aber ausserordentlich steile Flanke hinaus; ich stand nun bereits über den vom Hauptthale heraufreichenden Schuttböden des Alpwinkels, nur etwa 100 Fuss [320 m] hoch über ihnen, doch waren sie in gerade Linie noch nicht erreichbar; jetzt überblickte ich auch die zerrissenen Felsabstürze der Mitte des Kars und mochte mich glücklich schätzen, in dieses Labyrinth von Hindernissen mich nicht eingelassen zu haben. Eine sorgfältig ausgewählte Zickzacklinie brachte in vorsichtigem Gange dem breiten Geröllboden mich langsam näher; enge Grasbänder vermittelten die nothwendigen Kreuz- und Querzüge, schräge Furchen des Felshanges liessen Stufe und Stufe mich gewinnen, und endlich sprang ich vom letzten Schrofen weg auf's Geröll, – ich hatte mein Spiel wieder einmal gewonnen. –


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Letzte Aktualisierung am 25. April 2021

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