[Kalkalpen-Startseite] [Vorbemerkungen (bitte zuerst lesen!)] [Stichwortverzeichnis] [Impressum] [Kontakt]
Home XX. Im Hoch-Glück Dämmerungs-Aussicht XXI. Verirrt im Vomperloch
 H. v. Barth: Aus den Nördlichen Kalkalpen (1874)
 IV. Aus dem Quellen-Gebiete der Isar [Karwendel] [geographische Bezeichnungen sind noch nicht überprüft]
 XX. Im Hoch-Glück

Abstieg und Nachtlager im Oedkarl

Ueber die Felsenschärfen, die Plattenspiegel, die im Hinuntersteigen das Bedenkliche ihrer haltlosen Fläche erst recht fühlbar zur Geltung brachten, gelangte ich bei einbrechender Nacht auf die ebene Strecke des Grates zurück, welche ich im Anstieg aus dem Oedkarl zuerst berührt hatte; das gewohnte Zeichen – drei Platte Steine übereinander gelegt – scheuchte auch in der Dämmerung jeden Zweifel über die Richtigkeit des Weges. Im nächsten Augenblicke war das Spritzkar meinen Blicken entschwunden. Ich dachte in der Frühe des kommenden Tages seine Hügel, seine schutterfüllten Hochmulden wieder zu schauen, sie zu betreten, – der Spritzkarspitz, eventuell noch der Grubenkarspitz war für morgen, – günstige Witterung vorausgesetzt – in Aussicht genommen. Wohl glaubte ich, auf der Schneide noch stehend, grüne Flecke zu erkennen, die westwärts gegen das Spritzkar sich hinabzögen*), ich dachte einen Augenblick daran, in der Hochregion zu übernachten und diesen Abstieg zu versuchen, sobald der neue Tag heranbreche; aber das Gelingen dünkte mir doch gar zu fraglich, aus tieferer Zone des Spritzkars sah ich die Wald- und Krummholzflächen weit in den trennenden Zweigkamm hereingreifen und glaubte mit Sicherheit darauf rechnen zu dürfen, in einer Tiefe von ein- bis anderhalbtausend Fuss [300-500 m] eine günstige Querverbindung anzutreffen; ich vollendete daher den Abstieg in's Oedkarl, um dort mir ein Nachtquartier zu suchen. Das letzte Dämmerlicht half mir die untersten Steilstufen des Gehänges auf die Geröllfelder hinabklimmen; im Laufschritt über Schutt, Getrümmer, Schneeflächen und Grashügel verfolgte ich die Thalsohle abwärts, – je weiter ich heute noch vordrang, um so kürzer sollte ja mein Weg für morgen sein! – und je tiefer ich den Punkt meines Nachtlagers wählte, um so weniger hatte ich voraussichtlich vom Froste zu leiden.

*) Wie sich in der Folge herausstellte, wäre diess in der That der richtige, und zwar der einzig richtige Weg gewesen. Wer vom Oedkarl in das Spritzkar überzugehen beabsichtigt, hat den Seitengrat des Eiskarlspitzes in der oben beschriebenen Weise zu ersteigen, diesen von dem Punkte, woselbst der Anstieg ihn berührt, eine beträchtliche Strecke südwärts zu verfolgen, bis dass ein breiter, auf seinem Scheitel begrünter Zweigarm gegen das Spritzkar hinein sich von ihm ablöst. Längs desselben absteigend sieht man sich durch Steilwände zur Rechten – gegen Norden – lange Zeit gehindert, auf den nahe gelegenen Schuttboden des Spritzkars überzutreten, zuletzt aber vermitteln stufig abgesetzte, grasige Felsdämme eine gangbare Verbindung. Der Uebergang von einem Kar in das andere wird stark 2 Stunden beanspruchen.

Es war finstere Nacht geworden; die gewaltigen Felswände zu beiden Seiten des Kars zeichneten nur in allgemeinen, schweren Umrissen aus dem Dunkel sich ab; aus der Kluft am Mauerfusse des Kaiserkopfs dröhnte das Rauschen des abstürzenden Schneewassers. Schwarze Legföhrenbüsche zeigten sich in meiner Umgebung, vor mir schien der Boden steiler sich zu senken, in Längsrippen und Schluchten sich zu theilen. Der Tagesarbeit war Genüge geschehen. "Nach der Arbeit ist gut ruhen" – diess Sprichwort mustte die hereinbrechende Nacht wohl Lügen strafen. Ich suchte mir einen vorspringenden Felsblock aus, vom Krummholz überrankt und so eine kleine Laube als mangelhaften Schutz gegen den Wind bildend; zog, was ich an Bekleidungsstücken im Bergsacke vorfand, über, rollte das Uebrige zu einem Kopfkissen ein – freilich hart und eckig genug; schob es zurecht und streckte mich in's Heidelbeer- und Alpenrosen-Gestrüppe; nagte an einer Brodrinde und versuchte allmählig in Schlaf zu kommen. Rauh und kalt strich die Luft durch's Kar herauf; am schwarzen Firmamente jagten die Wolken zwischen den spärlich blinkenden Gestirnen dahin; stossweise pfiff und heulte der Nachtwind durch die Bergwüsten und in seine Stimme mischte sich das Brausen des Vomperbachs, geheimnissvoll, aus unergründlicher Tiefe.


Copyright © https://alpinhistorie.bergruf.de/barth/kalkalpen/
Letzte Aktualisierung am 25. April 2021

Home XX. Im Hoch-Glück Dämmerungs-Aussicht XXI. Verirrt im Vomperloch