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Home XVII. Die Obere Platte im Mieminger Gebirge Auf den Mitterberg. Erratische Vorkommnisse im Mieminger Gebirge Am Kalkgebirgsstock. Die Schafweideplätze auf der Oberen Platte
 H. v. Barth: Aus den Nördlichen Kalkalpen (1874)
 III. Aus dem Nord-Innthaler Gebirge [Karwendel/Mieminger Gebirge] [geograph. Bezeichnungen noch nicht überprüft]
 XVII. Die Obere Platte im Mieminger Gebirge

Die Judenbachschlucht – ein geologisches Prachtbild

Durch hohes Krummholz führte mein Pfad auf eine zweite kleine Weidefläche, eine fast horizontale Verbreiterung des Bergscheitels, der unverschmälert vonihrem Rande weg zu neuer Höhenstufe emporstieg; seiner vollen Ausdehnung nach überkleidet ihn die Legföhre, aus deren dichtem Teppiche hie und da die knorrige Gestalt einer Bergfichte emporragt. Nahe dem östlichen, gegen den Judenbach steil abbrechenden Rande führt der Steig, an vielen Stellen vom Krummholzdickichte überwölbt und mitunter sogar gesperrt; einzelne Lücken liessen mich in die Tiefe der Schlucht hinabblicken, und bereiteten mich einigermassen vor auf das Bild, welches die freie Höhe des Bergscheitels mir gewähren sollte. Und in der That, als ich hinaustrat auf die offenen Plätze, die begrast, mit Alpenrosengestrüppe und kurzen Legföhren bewachsen von der linken Seite herauf den Grat berühren, da gähnte rechter Hand eine chaotische Felsscenerie entgegen, wie ich grossartig wilder, scharfausgeprägter in allen ihren Formen kaum jemals sie gesehen.

Schluchten, Klüfte, Kaminspalten in allen Arten und Grössen, von Wasserstrahlen durchrauscht, von alten Lawinenrestern verstopft, vereinigen sich zu einem fistern, eingeklemmten Grunde, durch welchen der Judenbach seinem Felsenthore entgegenschäumt. Von Thürmen, Zinnen, Zackennadeln, gebrochenen Klingen starren die Riffe, die zwischen den jähen Grüften sich hinabsenken, oft selbst mitten durch gespalten und einen Theil ihrer Masse als isolirte Felsgebirge inmitten des gewaltigen Circus zurücklassend. Scharf abgehackt treten die Ecken seiner Umrandung als senkrechend stürzende Klippen gegen die Tiefe vor; auch die breiteren, geschlossenen Steilwände starren von Spitzen und Höckern, schwarze Risse durchsetzen sie nach allen Richtungen, bald sich verengend und verschwindend im Gemäuer, bald trichterförmig sich weitend zu trümmerführenden Runsen. Am kräftigsten hervorgehoben aber wird die wunderbare Grossartigkeit dieses wilden Felsenthales durch die ausgezeichnete Schichtung, wie durch die eigenthümliche Färbung des Gesteins. Die sogenannten Raibler Schichten oder der Untere Muschelkeuper der Alpen (nach Gümbel) gelangt hier zu einer Entwickelung von seltener Mächtigkeit und zu ausgedehntestem Aufschlusse. Wie im Mieminger Gebirge überhaupt, ist die Schichtenstellung einer fast senkrecht gegen Süd fallende; so reihen sich hier an den Wettersteinkalkstock der Oberen Platte die Unteren Muschelkeuper-Schichten der Judenköpfeln und des Mitterberg's, vom Judenbach in so gewaltiger Thalklemme durchschnitten. Die scharfgezeichnete, parallele Bänderung prägt durch das ganze, wild zerrisse Gewände auf's allerordentlichste sich aus. Lichtgraue Mergelschiefer wechseln mit den gelblichen und graubraunen Kalk- und Sandstein-Bänken, welche dem Sammler reiche Ausbeute an Petrefakten gewähren. Ein breites Band tiefbrauner, nach der Mitte in's Kohlschwarze übergehender Schiefer setzt senkrecht durch die Wand, auf beiden Seiten der Schlucht*), und verleiht dem an sich düsteren Bilde einen noch tieferen, finsteren Ton. An vielen Orten sind die weicheren, leichter verwitterten Mergel- und Schieferbänke weggewaschen und die festeren Kalk- und Sandsteinschichten ragen als isolirte Felsplanken mit oft wunderlich verzackten Firsten in die Luft. Eine photographische Aufnahme des Judenbachs von günstigen Punkten aus würde jedes geologische, namentlich alpin-geologische Werk trefflich illustriren.

*) Auch auf einzelnen Sätteln vorspringender Riffe findet diese Schicht sich erhalten, ebenso in der Trümmerrunse, durch die man vom Kar "Im Alpel" auf den Grat, nächst dem Massive der Oberen Platte gelangt, und noch einmal mitten in den Wettersteinkalkwänden hoch in der Südostflanke der letzteren, hier zusammen mit knolligem Thoneisenstein. Es wären diese Punkte, die ich auf meinem misslungenen Versuche, die Oberen Platte zu gewinnen, berührte, jedem Geologen sehr zu empfehlen, der letztgenannte ist leider etwas schwer zugänglich. Ob unter diesen schwarzen, zum Theil jedenfalls bituminösen Schiefern auch die wirkliche "Schwarzkohle des Alpenkeupers" (Gümbel, Geognosie des bayerischen Alpengebirges, S. 262) sich vorfinde, vermag ich nicht zu entscheiden, da während des Herumkletterns in den Wänden der Oberen Platte das mitgenommene Probestück leider zu Verluste ging. – Der Versteinerungsreichthum ist "Im Alpl" und namentlich in der Umgebung der bezeichneten Scharte weit grösser als jenseits, auf dem Mitterberg.

Der Bergsteiger hat weniger Grund, mit diesen hochinteressanten geologischen Strukturverhältnissen zufrieden zu sein. Eben jene Muschelkeuperschichten, namentlich die zwischenliegenden schwarzen Schiefer sind es, welche die so fatale Scharte am Anschlusse des Judenköpfelkammes erzeugen, deren relative Unbedeutendheit und doch unüberwindliche Steile hier erst so recht in die Augen fällt. Auch diesseits trennte eine Einsenkung den Mitterberg vom Hauptmassive ab, und vom Thale aus gesehen, wo der vorspringende Eckabsturz der letzten Graterhebung den eigentlichen Sattel verdeckt, scheinen hier gleich ungünstige Verhältnisse zu bestehen, wie "Im Alpel". Die Auffüllung eines nahegelegenen, seichten Karbodens mit Schutt des Wettersteinkalkes sichert zum Glück diese Stelle vor gleich energischer Einwirkung der Erosion und verspricht die Brücke nach der Oberen Platte so lange zu halten, bis die Obere Platte selbst dem Zahne der Aeonen zum Opfer gefallen ist.


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Letzte Aktualisierung am 25. April 2021

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