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Bevor ich vom Hirten mich trennte, richtete ich noch einige Fragen an ihn bezüglich der Oberen Platte und der Hochwand. Letztere betreffend, lautete sein Bescheid dem bereits früher erhaltenen conform. Die einzige, den Uebergang von den unteren auf die oberen grünen Plätze gestattende Stelle sei gar böse, und hätten sich die Schafe dort hinauf verirrt, was bisweilen vorkomme, so getrauten nur wenige Schafhirten sich, sie zurückzuholen. Ueber die oberen Platte wusste er nichts. Als ich aber bemerkte, dass zwischen deren Wänden und dem Anschlusse der Judenköpfeln ein paar Scharten sich befänden, die vom diesseitigen Kar aus gut erreichbar seien, und fragte, ob durch dieselben auf die Grasplätze der Oberen Platte zu gelangen sei, antwortete er mit einem zuversichtlichen "O ja, leicht".
Mein Platz hatte sich plötzlich geändert. Der prachtvolle Tag, den der klare Abend mit aller Gewissheit versprach, sollte nun sofort zum Besuche des Culminationspunktes der Mieminger Kette verwendet werden. Was ich erfahren, lautete ganz anders, als der Rath des Leutascher Jägers. Nach diesem hätte ich ja hart unter der Alplscharte, an 2000' höher, diesen Durchgang zu suchen gehabt; und Angesichts der furchtbar steilen und zerrissenen Ostwände der Oberen Platte fing dieser Rath an, stark an Zuverlässigkeit zu verlieren. Und nun liess ich mich durch die Aussage eines Hirten, der die offen vor Augen stehende Hochwand für allzugefährlich erklärte, bestimmen, die obere Platte von einer Seite anzusteigen, die ich noch gar nicht gesehen, und zu deren Recognoscirung eben ein vorheriger Besuch der Hochwand die beste Gelegenheit geboten hätte. Das war der zweite Fehler.
Mit dem Lebenselemente Wasser schwer beladen stieg ich wieder hinauf zum Hause; durch das vorsorglich offen gelassene Fenster wurden die Flaschen in's Zimmer gestellt, ich selbst folgte auf dem bekannten unterirdischen Umwege nach. Nun begann ich häuslich mich einzurichten. Der Schnellsieder wurde in Activität gesetzt, und bald hatte ich vorzügliche Fleischsuppe*), die in einer gläsernen Kaffeetasse, mit Kaffeelöffel versehen, säuberlichst servirt wurde. Mit Zugabe einea abgemessenen Theiles des Brodvorrathes erzielte ich ein ganz leidliches Abendessen, gewürzt durch eine herrliche Aussicht aus den nach drei Weltgegenden sich öffnenden Fenstern. Im Westen ragen die schwarzen Zacken der Judenköpfeln und der Oberen Platte in den goldenen Abendhimmel auf, südlich erschliesst sich das nahe Innthaler Gebirge [???], durch das östliche Fenster, an welchem ich meinen Sitz genommen, schweift der Blick über die weite Innthaler Ebene hinaus bis Zirl und Innsbruck; – über das grüne Glimmerschiefer-Gebirge, Patscherkofel, Glungezzer, Rosenjoch, bis zum Kellerjoch bei Schwaz, auf welchem das Fernrohr deutlich die Kapelle erkennen lösst; und höher und ferner noch die weissen Schneezelte des Zillerthals, des Hinterdux [Hintertux] und Stubay [Stubai]. Immer weiter rücken die Schatten an den starren Wänden des Hochmunde [Hohe Munde] hinauf, die gewaltig im Nordosten sich emporbauend, den goldhellen Abendglanz zurückspiegeln; immer tiefere Töne nimmt die Beleuchtung seiner Felsen an vom Orange zum Roth, bis endlich mit dem letzten Purpurhauch das Licht an ihnen erlischt. Auch an den Ufern des Inn ist's dunkel geworden, zart violette Tinten giessen sich über die Fluren, die Gebirge, nur die Ferner schimmern noch im sanften Rosenscheine. Und auch auf diesen Höhen wird's düster, duftiges Dunkel hebt sich über den östlichen Horizont, in ihm verschwimmen Berg und Himmel. Im tiefen Blau taucht hier und dort ein Sternlein auf. – Und wieder hellt sich's an den Grenzen des Gesichtskreises; und wieder erhebt sich eine Leuchte über den Gebirgen. Die Vollmondscheibe steigt langsam hinter den Kalkkögeln herauf, ihre zackenreiche Silhouette auf glänzender Folie abschattend, bis dass zuletzt der Silberball auf ihren höchsten Zinnen ruht, einer schaukelnden Seifenblase vergleichbar. – Wer mochte denken, dass solch' zauberschönem Abend ein verfehlter, verdorbener Tag folgen würde?
*) Ich habe im Sommer 1873 begonnen, den bisher üblichen Kaffee durch Mitnahme von Liebig'schem Fleischextract zu ersetzen und diess als durchaus probat befunden. Der Scherz, auf hohen Berggipfeln zu kochen, bleibt dabei allerdings meist weg (obgleich die Möglichkeit hierzu ebenso gut vorläge), dafür ist der Gewinn an Nahrhaftigkeit ein grosser und namentlich bei mehrtägiger Alpenkost erweist sich der Genuss von Fleischsuppe, wenigstens einmal des Tages, als sehr zuträglich. Zugleich vermindert sich, gegenüber Kaffee, sowohl Volumen als Gewicht des mitzuführenden Gepäckes.