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Vergessen war es nicht, dass dort, im tiefgeborgenen Winkel, umschanzt von Felsenmauern, noch Einer meiner wartete, als ich kurz nach dem Unfalle am Ofelespitz [Öfelekopf] einer Freundes-Aufforderung in's Algäu folgte. Am 7. September [1871] standen wir auf dem Gipfel des Hochvogel, wo einstmals ich eine Nacht verlebt; – zwei Jahre nur, und doch eine lange, wechselreiche Zeit. Anders als vordem sah die verwegene Pyramide ihren Scheitel mich betreten, andere Gedanken zogen von ihr in die Weite. – Wir stiegen in's Schwarzwasserthal ab (Freund H. etwas zu schnell, vgl. das 9. Cap.) und waren Abends in Reutte. Am andern Vormittag fuhren wir gemächlich nach Lermos hinüber, assen dort zu Mittag, verplauderten noch ein paar Nachmittagsstündchen – morgen wird's nicht gefährlich, mochte die Höllenthalspitze denken.
Um 4 Uhr brachen wir gemeinsam auf; Freund H. nach Partenkirchen und Ammergau – ich auf's Platt. Zwei Stunden vor Sonnenuntergang von Lermos nach der Knorrhütte abmarschiren, ist gewiss kein alltäglicher Fall; aber ich war ja heimisch in den Gebirgen und die Zeit, die Anderen Schrecken und Gefahren bereiten möchte, gewährte mir die Annehmlichkeit einer kühlen Temperatur. Die Leute auf der Ehrwalder Alpe, wo ich noch eine kleine Erfrischung einnahm, machten denn auch grosse Augen, als sie von meiner Absicht hörten, den gleichen Abend noch auf's Platt und nach der Knorrhütte hinüber zu gehen. "Da gibt's ja keinen Weg mehr" meinten sie, – das wusste ich ganz genau. Es war 6 Uhr, und die Sonne stand fast am Rande des Horizontes, als ich von der Alpe abmarschirte. Schwere Wolken deckten den Himmel, man hätte unter gewöhnlichen Umständen Regen erwarten müssen, aber die Eigenthümlichkeit der damaligen Witterung, jeden Nachmittag mit einem, gar nicht zum Ausbruch kommenden Gewitter zu drohen und schon nach Sonnenuntergang sich wieder zu klären, hatte bereits zu lange angedauert, als dass ich durch solche Auspicien von meinem Vorhaben abgeschreckt worden wäre. Das letzte Dämmerlicht begleitete mich von der Pestkapelle über die steinige Wiesgründe des Hoch-Isenthales hinauf; als ich den ersten Gratübergang, am Fusse der Gatterlköpfe, betrat, – 7 Uhr 45 Min. – war es bereits völlig Nacht. Wie erwartet, fing auch alsbald der Himmel an sich klären. Die schweren Gewölke zogen nicht fort, sie lösten sich von selbst in der Luft. Erst schimmerten nur einzelne der hellsten Sterne verwaschen durch ihren Schleier, dann immer schärfer und zahlreicher, bis dass auch kein leiser Dunst mehr den Glanz der Himmelslichter trübte. Helle freilich verbreiteten sie auf meinem Wege nicht; und Luna kündigte im Kalender ihre Ankunft erst für die Morgenstunden an, – ich hatte keine Zeit, auf sie zu warten.