[Kalkalpen-Startseite] [Vorbemerkungen (bitte zuerst lesen!)] [Stichwortverzeichnis] [Impressum] [Kontakt]
Home XIV. Das Hohe Brandjoch bei Innsbruck Uebergang; Schneewehen auf dem Grat Gewissenhaftigkeit eines Schuhkünstlers
 H. v. Barth: Aus den Nördlichen Kalkalpen (1874)
 III. Aus dem Nord-Innthaler Gebirge [Karwendel/Mieminger Gebirge] [geograph. Bezeichnungen noch nicht überprüft]
 XIV. Das Hohe Brandjoch bei Innsbruck

Der Gipfel; Aussicht

Ueber Schutt und Schrofen nahte ich unbehindert dem letzten Ziele; Vorsicht erheischten lediglich die dünnen, auf dem Grate hochgehäuften Schneewehen, und übergrosser Ersteigungs-Eifer hätte nahezu im letzten Augenblicke noch eine schlimme Wendung herbeigeführt; der Fuss brach mir durch eine solche Schneewand und fuhr auf die Gegenseite des Grates in die freie Luft hinaus, der stützberaubte Körper sank natürlich nach, und hätte der Rest des durchlöcherten Walles nicht tapfer Stand gehalten, so hätte der Brandjochspitz, und hätte seine ganze ausgebreitete Verwandtschaft wohl Ruhe vor mir gehabt. Indess der nächste Moment hatte die Gleichgewichtslager wieder hergestellt, die folgende Minute sah ich mich auf dem Gipfel (7997' 2599 m. Kataster.). Auch dieser trug noch seine winterliche Schneemütze; als breites Plateau deckte sich die Hälfte seines Scheitels und hing als schwerer Rundballen gegen Norden hinab. In respectvoller Entfernung liess ich auf dem rauhen Fels der Kante mich nieder.

Eine Stunde hatte der Uebergang gewährt; die Mittagszeit war bereits vorüber. Dampfendes Gewölk erfüllte das Himmelszelt, im Westen zog sich's in schwarze Massen zusammen. Dorthin war jetzt der Ausblick frei geöffnet, nur der Kleine Solstein, ein gewaltiger schiefer Thurm, machte noch einen geringen Vorrang für sich geltend, die Hohe Warte dagegen, welche völlig die Gestalt einer Jacobinermütze angenommen hatte, war zurückgesunken*); noch tiefer herabgedrückt erschien zur Rechten des Kleinen der breite Scheitel des Grossen Solsteins. Drüber weg traf das Auge auf die kahlen Zinnen des Wetterstein und des Munde-Mieminger Gebirges, welche, wenngleich erst in zweiter Linie, noch zu den Kandidaten des heurigen Sommers zählten; doch hatte erster Gruppe noch ein weiteres Jahr, die letztere aber volle drei Jahre auf meinen Besuch zu warten. Im Dunkel der Gewitterwolken und der heranziehenden Regenschauer verschwimmend zeichneten die Lechthaler Alpen ihre hörnerreichen Kämme am Horizonte ab und ein lichter Streif in fernsten Westen liess auch einen Theil meiner vorjährigen Bekannten erblicken, die östlichen Algäuer Berge, voran ihr Führer, die krumme Pyramide des Hochvogel.

*) Die augenscheinliche Depression wurden durch die sofort vorgenommene Klinometervisur und durch eine spätere Controlmessung von der Hohen Warte auf den Hinteren Hohen Brandjochspitz herüber bestätigt. Die Höhenangabe Prof. Pfaundler's (Einige Höhenmessungen im Gleirsch- und Hinterauthale) mit 7944' 2580,5 m. für ersteren unter dem Namen Schneekarkesselspitz und 7945' 2581 m. für letzteren dürfte hiernach wohl auf einer relativen Unrichtigkeit beruhen.

Die Thalaussicht im Süden war fast unverändert geblieben, hatte sich jedoch bis gegen Zirl hin erweitert. Neugierig, das wahre Gefäll der anscheinend so schroff aufragenden Kette zu erkennen, visirte ich von ihrem Scheitelpunkte nach der Thalsohle hinab (Kranabitten an der Landstrasse, 1 St. von Innsbruck) und wieder erhielt ich ein überraschend geringes Resultat, 23 1/2 °. Wer möchte, construiert er diesen Winkel sich in geraden Linien, daran glauben, dass seine Bewältigung soviel Anstrengung, ein so langwieriges, fast unausgesetzt steiles Ansteigen koste? – Wahrlich, das alte Sprichwort, dass Vieles in der Wirklichkeit sich anders ausnimmt als auf dem Papier, erweist sich nirgend zutreffender als im Gebirge und in Bezug auf die Verhältnisse seines Aufbaues.

Nordwärts hatte über den scharfen Grat des Fuchsschwanz hinweg der Einblick in's Zirler Christenthal sich geöffnet, eine Verzweigung des Gleirschthales, welche bei dem Jägerhaus "An der Amtssäge" in dasselbe ausmündet; ein einsames Thälchen, waldreich, mit wenigen Alpwiesen und kurzen, mit Schuttkaren, abschliessenden Ausbuchtungen unter den Mauern der Solsteinkette. Sein Ende erreicht es auf dem grünen Sattel, welcher den grossen Solstein mit der Seefelder Dolomit-Gruppe, zunächst dem Erlspitze, in Verbindung setzt.


Copyright © https://alpinhistorie.bergruf.de/barth/kalkalpen/
Letzte Aktualisierung am 25. April 2021

Home XIV. Das Hohe Brandjoch bei Innsbruck Uebergang; Schneewehen auf dem Grat Gewissenhaftigkeit eines Schuhkünstlers